Für den Roman Leichte Sprache (Matthes & Seitz, 2022) erhalten die Autorin Cristina Morales und die Übersetzerin Friederike von Criegern den Internationalen Literaturpreis 2022 (Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen).
Abb. oben: Preisträgerinnen 2022, die Autorin Cristina Morales und die Übersetzerin Friederike von Criegern erhalten den Internationalen Literaturpreis 2022 für den Roman Leichte Sprache, Foto: Malte Seidel / HKW
Zum vierzehnten Mal wird der Internationale Literaturpreis für Gegenwartsliteraturen in deutscher Erstübersetzung vom Haus der Kulturen der Welt (HKW) und der Stiftung Elementarteilchen verliehen. Mit 20.000 € für Autor*in und 15.000 € für Übersetzer*in würdigt der Preis nicht nur herausragende aktuelle Stimmen der internationalen Erzählliteratur, sondern zeichnet insbesondere die Allianz von Autor*in und Übersetzer*in aus. Für die Nominierung zur Shortlist erhalten alle anderen Autor*innen und Übersetzer*innen jeweils 1000 €.
„Leichte Sprache“ ist eine vielstimmige Ich-Erzählung, ein Gerichtsprotokoll, ein Gesprächsprotokoll, ein Roman in Leichter Sprache, ein Fanzine. Ein poröses Ensemble aus Formen und Figuren. Dieser Roman ist kein Inklusionsmärchen, er ist ein Forderungskatalog. Er besteht auf der Benennung von Unterschieden, auf Klarheit, er besteht auf der Notwendigkeit zu hassen, auf Lebendigkeit, Überraschung und Revolte. „Leichte Sprache“ ist eine Liebeserklärung an die Politisierung, aber auch an den Tanz und an das Begehren. Er erzwingt eine Neujustierung von Begrifflichkeiten und Zuschreibungen. Unsere Entscheidung, den Preis diesem Buch zu geben, ist eine Liebeserklärung – an das Buch und seine Protagonistinnen, an die Heftigkeit, mit der sie auf Restriktionen, Demütigungen und Entmündigung reagieren.
„Leichte Sprache“ ist ein Buch aus vielen Stimmen, deren Ton oft rasch umschlägt. Rollenprosa von Figuren, über die wir wissen, dass Sprachgewalt und Eleganz nicht ihr Ziel sind, vielleicht auch nicht ihre Fähigkeit – deren Umgang mit Sprache also von vornherein brüchig ist. Man kann sich für eine Übersetzerin kaum eine größere Herausforderung vorstellen. Es ist preiswürdig, mit welcher Diszipliniertheit Friederike von Criegern sich dieser Aufgabe gestellt hat. Cristina Morales’ Buch ist ein Befreiungsschlag, weil es die Stärke vorführt, die unsere Fragilität hervorbringen kann, die Zähigkeit, die in unserer erfahrenen, erlebten oder auch antizipierten Versehrbarkeit gründet. Es führt uns einen auf befreiende Weise veränderten Blick auf die Welt vor, eine erst durch die Anerkennung eigener Versehrbarkeit zur Möglichkeit gewordenen Radikalität.
Aus der Begründung der Jury
Der Jury gehören in diesem Jahr Robin Detje, Heike Geißler, Michael Götting, Dominique Haensell, Verena Lueken, Annika Reich und Elisabeth Ruge an.
Die Preisträgerinnen
Cristina Morales studierte Rechts- und Politikwissenschaften und arbeitet als juristische Dolmetscherin in Barcelona. Sie verfasste mehrere preisgekrönte Romane und Kurzgeschichten und gilt als eine der besten Nachwuchsautor*innen Spaniens. Ihr Roman Lectura fácil (Leichte Sprache) wurde mit dem Premio Herralde de Novela ausgezeichnet, 2019 gewann sie als jüngste Autor*in den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums. Morales ist Tänzerin und Choreografin der zeitgenössischen Tanzkompanie Iniciativa Sexual Femenina.
Friederike von Criegern ist Literaturübersetzerin und freie Dozentin für Literatur und Übersetzen. Sie promovierte über chilenische Lyrik und übersetzt Belletristik, Lyrik und Theater aus dem Spanischen, zuletzt Jorge Comensal, Nona Fernández und Floridor Pérez. Nach Aufenthalten in Peru, Chile und Argentinien lebt sie in Göttingen.
Leichte Sprache
Roman. Matthes & Seitz, 2022
409 Seiten, Hardcover gebunden
Preis: 25,00 €
Spanisch: Lectura fácil
Anagrama, 2018
Leichte Sprache erzählt die Geschichte von vier Frauen, die mit der Diagnose einer geistigen Behinderung in einer betreuten Wohnung im gentrifizierten Barcelona leben. Nati beschreibt ihre Symptomatik als »Schiebetüren-Syndrom«: Unter Druck verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt. Alle vier haben Lernschwierigkeiten. Marga ist Analphabetin und sexuell überaus aktiv, Àngels stottert, Patri hat Logorrhö. In integrativen Tanzgruppen und in der Hausbesetzerszene Barcelonas versuchen die Frauen, sich von der Bevormundung durch staatliche Einrichtungen und Justiz zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So scharfsinnig wie wütend demaskiert die Tänzerin Nati die Ideologie der nach den Vorstellungen der »neoliberalen Macho-Faschos« funktionierenden Gesellschaft, ihre Cousine Àngels entdeckt mit »leichter Sprache« ein Instrument der Teilhabe und verfasst ihre Lebensgeschichte auf WhatsApp mit erstaunlicher Poesie. Vielstimmig erzählt Cristina Morales vom Leben dieser Frauen und montiert dabei Gerichtsakten, Protokolle der anarchistischen Okupas und ein Fanzine zu einem großen Roman.
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Der Internationale Literaturpreis wird verliehen vom Haus der Kulturen der Welt mit der Stiftung Elementarteilchen (Hamburg).
Das Haus der Kulturen der Welt wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie das Auswärtige Amt.